Wolfsburger Nachrichten: „Totgeburt“, die bis zu 2200 Fans anlockte, wird 30

Wolfsburg „Das ist ein totgeborenes Kind“, hörte Dirk Räke Maresté Anfang der 1990er-Jahre einen heimischen Journalisten über die Gründung der American-Football-Sparte des TV Jahn Wolfsburg sagen. Damals wie heute ist Räke-Maresté Geschäftsführer des Vereins und stolz auf das Jubiläum, das die Blue Wings in diesem Jahr begehen. Vor 30 Jahren feierte der US-Sport seine Premiere in der VW-Stadt. Aus der befürchteten „Totgeburt“ ist ein fester und mal mehr, mal weniger populärer Bestandteil der Wolfsburger Sportszene geworden.

„Klar“, räumt Räke-Maresté ein, „anfangs haben viele die Regeln nicht verstanden. American Football war ja für die meisten neu.“ Doch die Fehleinschätzung des Sportreporters verschafft dem TVJ-Geschäftsführer bis heute eine kleine Genugtuung. „Zum ersten Punktspiel im Jahr 1992 kamen mehr als 2000 Zuschauer. Uns klappte die Kinnlade herunter.“

Eines der etwa 50 Gründungsmitglieder der Abteilung war Jörg Tinney. Zusammen mit Hans-Joachim Lewinski und Michael Gehrt hatte er die Idee zu einem Wolfsburger Footballteam. „Wir drei spielten damals in Braunschweig, hatten aber den Gedanken, unseren Sport in unserer Stadt ausüben zu wollen“, erzählt Tinney. Per Zeitungsaufruf und Mundpropaganda fand das Trio Gleichgesinnte. Nach einem ersten Treffen im August 1990 und folgenden Try-outs auf dem Bolzplatz des Klieversbergs bereitete sich das neu entstandene Team ein Jahr später schon mit Testspielen auf seine erste offizielle Saison vor.

1992 war es dann soweit. Mit Albert Burks und Tom Riva holten sich die Blue Wings gleich zwei amerikanische Spielertrainer in den Coaching-Stab. „An Spielern mangelte es uns nie, der Kader war groß. Von Handballern über Bodybuilder bis hin zu Individualsportlern, die mal wieder einen Mannschaftssport ausüben wollten, war alles dabei. Im Football gibt es für Sportler jeder Statur eine Rolle. Wir hatten tolle Athleten im Team“, erinnert sich Tinney weiter.

Der anfängliche Erfolg war überwältigend. „2200 Zuschauer kamen zu unserem ersten Punktspiel ins Jahn-Stadion.“ Mit am Ende nur einer Niederlage marschierte der Neuling durch die Landesliga und stieg in die Verbandsliga auf. Dort folgte der nächste Durchmarsch in die Regionalliga, wo die Blue Wings von 1994 bis 2002 zu Hause waren.

Was war es, das seinerzeit die Aufbruchstimmung ausmachte? „Anfang der 1990er-Jahre war Football in Deutschland auf dem Vormarsch. Wir alle waren enthusiastisch und emotional, aber es war auch schweißtreibend. Vom Erfolg waren wir selbst überrascht. Wir erreichten zwar nie wieder 2200 Zuschauer in einem Heimspiel, aber trotzdem kamen auch danach noch viele“, schwärmt Tinney.

Doch die Erfolgskurve der Blue Wings verlief nicht dauerhaft steil nach oben. Zum ersten Mal 1995, als sich Tinney/Lewinski nach Meinungsverschiedenheiten im Verein erstmals zurückzogen, und auch nach ihrer grandiosen Comeback-Saison 1996, nach der sie endgültig aufhörten, fiel die Mannschaft immer mal wieder in tiefe Löcher. „Wir hatten es versäumt, die Verantwortung früher auf eine breitere Plattform zu stellen. Es war zu viel für eine Drei-Mann-Show. Das würde ich aus heutiger Sicht anders machen. Aber wir waren von der Entwicklung selbst überrollt worden“, sagt Tinney selbstkritisch.

Ohne sein etabliertes Trainerduo brach auch das Team auseinander. 1995 trat es mangels Spielern in den letzten zwei Partien gar nicht mehr an. Gehrts Verhandlungsgeschick, mittlerweile war er Abteilungsleiter, beim Verband war es zu verdanken, dass die Blue Wings in der Liga bleiben durfte. Ein Jahr später waren Tinney und Lewinski für eine Saison noch mal zurück. Am vorletzten Spieltag hätte ein Sieg bei Verfolger Berlin Bears den Aufstieg in die 2. Liga bedeutet. Kurz vor Schluss verspielten die bis dato ungeschlagenen Blue Wings eine 6:0-Führung unglücklich und verloren mit 6:7 – Berlin stieg eine Woche später auf. Das Duo Tinney/Lewinski gab dann Anfang 1997 nach erneuten Querelen seinen endgültigen Rücktritt bekannt.

Unter den neuen Verantwortlichen begann eine Berg- und Talfahrt, die jedoch auch in schlechten Jahren nie im Abstieg mündete. 2003 folgte der Schock. Kurz vor Saisonstart zogen die Blue Wings überraschend zurück, obwohl sie in der Spielzeit zuvor unter Headcoach Harald Voelkel sportlich den Aufstieg in die 2. Liga geschafft hatten. „Das war der negative Höhepunkt“, erinnert sich Räke-Maresté nur ungern an die dunkelsten Stunden des Teams.

Der Zwangsabstieg war die Folge, 2003 setzten die Blue Wings aus. Von 2004 bis 2006 ging es noch drei Jahre mit mäßigem Erfolg in der Oberliga weiter. Dann lag das Team endgültig am Boden und wurde abgemeldet. „2007 nahmen wir einen Neustart bei der Jugend vor und hatten 2008 genug Jugendspieler, um mit diesen bei den Herren anzutreten“, erzählt Stefan Trienke. Der ehemalige Wings-Spieler leitete als neuer Headcoach den Neuanfang und die lange Phase der Konsolidierung des Teams ein. „Die ersten Jahre gewannen wir kein einziges Spiel. Erst 2011 war es soweit.“

Von da an befanden sich die „blauen Schwingen“ wieder im Aufwind. Nach zwei Aufstiegen (2012 in die Oberliga und 2018 in die Regionalliga) war der TV Jahn zurück in der dritthöchsten deutschen Spielklasse – diesmal jedoch ohne kostspielige Importspieler aus den USA, was bis heute so ist.

Auch der Rahmen bei Heimspielen ist kleiner als in den Anfangsjahren, das Niveau der deutschen Spieler dafür durchgängig wieder auf einem guten Niveau. Das finanzielle Risiko der Sparte ist überschaubar. Der Geschäftsführer wird auch vorerst keine Wagnisse mehr eingehen. „Wir wissen noch gar nicht, wie sich Corona in den nächsten Jahren auf den Sport auswirkt. Deshalb gehen wir es eher vorsichtig an“, sagt Räke-Maresté.

„Es ist ein Traum, irgendwann mal wieder US-Spieler holen und das Rahmenprogramm bei Heimspielen erweitern zu können. Aber es darf nie ein finanzielles Risiko darstellen“, stimmt Trienke, der nach der Saison 2019 das Amt des Headcoaches gegen das des Spartenleiters getauscht hat, in puncto Finanzen dem Geschäftsführer zu. „Wir haben eine solide Basis für den Football in Wolfsburg gelegt und wollen uns in der Regionalliga etablieren. Aber das dauert.“

Räke-Maresté ist zufrieden. „Dass wir heute auf 30 Jahre American Football im TV Jahn zurückblicken, hätten doch 1990 die wenigsten gedacht.“ Es sei eine sehr spektakuläre Sportart, die den Verein regional und überregional bekannt gemacht habe. „Ich bin sehr froh, dass wir sie in den TV Jahn aufgenommen haben damals.“ Es hätte auch anders kommen können aus finanziellen Gründen. „Es gab die Prämisse, nach Möglichkeit kostendeckend zu arbeiten. Weil Football kostenintensiv ist, zahlen die Mitglieder einen erhöhten Beitrag.“

Tinney hat mittlerweile kaum noch Berührungspunkte mit den Blue Wings. Trotzdem gibt er stellvertretend auch für Lewinski und Gehrt zu: „Das macht uns schon stolz, sagen zu können, die Gründungsväter gewesen zu sein. Es waren alles in allem absolut fantastische Jahre mit den Blue Wings.“